image slideshow

Landtag Infos

Themenzuständige: Bildung, Kultur
Mitglied: AK 3 "Bildung, Soziales und Integration"

Landtagsausschüsse:

  • Stellv. Vorsitz: Ausschuss für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur;
  • Ausschuss für Bildung;
  • Ausschuss für Europafragen und eine Welt (stellv.)

Gremien:

  • Oberrheinrat;

  • Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur;

  • Landesstiftung Arp Museum;

  • Kuratorium des Vereins Kultursommer RLP;

  • Härtefonds des Landes RLP zur Unterstützung von Opfern des Nationalsozialismus

  • Landesbeirat für Weiterbildung (stellv.)

  • Beirat des Künstlerhaus Edenkoben

  • Kuratorium der Universität Koblenz-Landau

  • Vizepräsidentin des Partnerschaftsverbandes Rheinland-Pfalz/Burgund e. V. 

Bildung als Weg der Integration und Inklusion als top-down verordnete bottom-up-Bewegung
03.11.2015 | Kategorie: Bildung | von: Robert Reick

„Flüchtlinge schnell integrieren“ – Ein Bericht vom Bildungspolitischen Forum 2015 der Leibniz-Forschungsverbund „Bildungspotenziale“ (LERN) in Berlin



Forum zur schulischen Inklision: KMK-Generalsekretär Udo Michallik, Prof. Dr. Birgit Lütje-Klose, GEW-Hauptvorstand Dr. Ilka Hoffmann und Prof. Dr. Hans Anand Pand (von links) auf dem Bildungspolitischen Forum der Leibniz-Gemeinschaft.

Forum zur schulischen Inklision: KMK-Generalsekretär Udo Michallik, Prof. Dr. Birgit Lütje-Klose, GEW-Hauptvorstand Dr. Ilka Hoffmann und Prof. Dr. Hans Anand Pand (von links) auf dem Bildungspolitischen Forum der Leibniz-Gemeinschaft.

Cornelia Quennet-Thielen, Staatssekretärin des BMBF, begrüßt "fast wie zum Familientreffen" die interdisziplinäre Gemeinschaft der Bildungsforscher: Bildungsinvestitionen seien Zukunftsinvestitionen, die sich für den Einzelnen und die Gesellschaft auszahlten, sagt Amtschefin Quennet-Thielen dem Plenum. Doch direkt gießt sie Wasser in den Wein, fragt, ob am alten Appell, das Bildungswesen nach so vielen Reförmchen für wenigstens drei Jahre ganz in Ruhe zu lassen, nicht vielleicht etwas dran sei. Der Bund wolle zwar weiter Bildungsforschung auf hohem Niveau fördern und finanzieren – jedoch müsse so (auch durch Nach- und Mehrfachauswertung bestehender Datensätze) mehr bildungspolitisches Wissen entstehen, das allgemein verständlich und anwendungsbezogen sei.

Politisch Verantwortliche fordern immer wieder solche klaren, handlungsorientierenden Aussagen von Forschenden, die dazu dienen können, Praxis zu gestalten. Auf dem heutigen Bildungspolitischen Forum des LERN-Forscherverbunds von Instituten der Leibnizgemeinschaft können sie diese erhalten. Zum Beispiel zum Thema geflüchtete Menschen: "Der Erwerb der Sprache des Ziellandes und die Annäherung an seine Kultur gelingen am besten in frühkindlichen Einrichtungen und Schulen", sagt Prof. Dr. Marcus Hasselhorn, Geschäftsführender Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) mit Sitz in Frankfurt. Bildung sei das stärkste Mittel zur erfolgreichen Integration von Migranten. Deshalb müssten schneller Spracherwerb und Qualifikation im Zentrum der Bemühungen für die Flüchtlinge stehen.

Sein Münchner LERN-Kollege, der ifo-Bildungsökonom und LMU-Volkswirt Prof. Dr. Ludger Wößmann, pflichtet ihm bei: "Die beste Chance auf eine erfolgreiche Integration haben wir, wenn die Flüchtlingskinder im frühen Alter Kitas und Kindergärten besuchen und dort regelmäßigen sprachlichen Austausch mit Kindern ohne Migrationshintergrund haben." Auch in der Schule müssten – so die beiden Wissenschaftler – Flüchtlingskinder so schnell wie möglich in den normalen Klassenverband integriert werden. Wößmann ist mit einem Haufen frischer Zahlen aus München angereist – die Politiker*innen aufhorchen lassen soll(t)en. Wößmanns Zahlen stammen aus seinem soeben erschienenen "ifo-Bildungsbarometer" und lassen sich auf diesen erstaunlichen Nenner bringen: Die deutsche Bevölkerung ist aktuell zu grundlegenden Bildungsreformen bereit! Keine Rede kann also sein von einer allgemeinen Reformmüdigkeit der Menschen in Deutschland.


Dass der großgewachsene Wößmann, blauer Anzug, helles Hemd, heute so feste auftreten kann auf dem Podium liegt nicht nur daran, dass Stationen wie Stanford und Harvard seine akademische Vita schmücken. Denn allein die Quantität seiner Befunde hat eine eigene Wucht: 4.200 Menschen wurden erneut nach validen sozialwissenschaftlichen Kriterien für das Barometer befragt – häufig in zufällige Untergruppen eingeteilt, die mit oder ohne zusätzliche Informationen auf die aktuellen Fragen reagieren (sog. Survey-Experimente). Die Themen des Barometers umfassen von Kita bis Uni alle Bildungsbereiche und adressieren deutlich Politik. So beginnt das Barometer (siehe: ifo Schnelldienst 17/2015; Vol 68; 10.09.2015) nicht von ungefähr mit der wahlentscheidenden Bedeutung der Bildungspolitik: Dass bei Landtagswahlen Schul- und Bildungspolitik eine wichtige Rolle spielen geben dort 73 % der Befragten insgesamt an (76% jener Befragten, die meist oder immer ihre Stimme zur Wahlurne tragen; und 83% der Befragten mit schulpflichtigen Kindern). Sprechen sich in Wößmanns Bildungsbarometer für einen kostenlosen Kitaplatz ohnehin bereits 77% der Befragten aus, steigt dieser Wert sogar auf 85% an, wenn die Befragten im Vorfeld über die statistischen Effekte der frühkindlichen Bildung auf spätere Biografien aufgeklärt werden. Auch der GRÜNE Vorstoß für die Einrichtung bundeseinheitlicher verbindlicher Qualitätsstandards für die Kita (etwa bezüglich Gruppengröße und Ausbildungsgüte) trifft auf die Zustimmung von 86% der Befragten. Entsprechend finden auch 79% der Barometer-Befragten, dass die Gehälter von Erzieher*innen steigen sollen (ohne einen Zusammenhang zur Akademisierung des Erzieher*innenberufs zu erkennen, die gemäß dieser repräsentativen Befragung noch keinen Rückhalt in der Bevölkerung findet). Über das Splitten in Teilgruppen von Befragten konnte das aktuelle Bildungsbarometer auch ermitteln, dass für eine Ganztagsschule (GTS) in der Bevölkerung eine Mehrheit besteht – sofern diese bis 15 oder 16 Uhr dauert, nicht aber bis 17 Uhr. 56% der Befragten sprechen sich dafür aus, dass der Staat Unternehmen subventionieren sollte, falls diese Lehrlinge einstellen, die mindestens ein Jahr vergeblich nach einer Azubi-Stelle gesucht hatten. Im Bereich der beruflichen Weiterbildung sprechen sich 65% der Befragten für einen tariflich geregelten Anspruch auf ein Bildungsteilzeit-Modell aus, bei dem nach Abschluss einer berufsbegleitenden Weiterbildung das Arbeitsverhältnis automatisch wieder in ein Vollzeitverhältnis übergeht. Zustimmung für die Aufhebung des Bund/Länder-Kooperationsverbots im Schulbereich signalisieren 59% der Befragten. Außerdem mittelt das Bildungsbarometer die Antworten der Befragten, von welchen Ebenen des Staates welcher Anteil an der Finanzierung allgemeinbildender Schulen getragen werden soll, auf 48% für den Bund, 33% für die Länder und 18 % für die Kommunen. Dass die Ausgaben für Bildung dabei insgesamt steigen sollen, gaben 85% der befragten Eltern und 75% der restlichen Befragten an (überwiegend denken sie dabei an die weiterführenden Schulen, was nach vorgeschalteter Information zugunsten der frühkindlichen Bildung korrigiert wird). Wößmann will dem Podium mit diesen Zahlen Mut machen, nötige Reformen anzugehen. In den letzten Jahren habe die Debatte über Bildung dank der empirischen Forschung viel an Sachlichkeit gewonnen und eine "Entideologisierung" erfahren. Die öffentliche Meinung, so wie sie das ifo-Bildungsbarometer aktuell für Deutschland gemessen hat, kann zumindest in den angeführten Dimensionen nicht als Hemmfaktor für Reformen gelten. Entsprechend möchte Wößmann als Organisator der heutigen Tagung seine Befunde tatsächlich als eine Ermutigung für die Politik ansehen, notwenige Bildungsreformen anzugehen. Angelpunkt sei in diesem Zuge aber die Information und Aufklärung der Bürger*innen – getreu einer Weisheit der BBC: Wir überschätzen die Informiertheit und wir unterschätzen das Urteilsvermögen der BürgerInnen.


Deutlich düsterer als Reformmotivator Wößmann startet sein Berner Kollege Prof. Dr. Stefan C. Wolter von der Schweizer Koordinierungsstelle für Bildungsforschen seine Keynote zu den Schweizer Verhältnissen. Was die Bereitschaft zur Investition von öffentlichen Mitteln in Bildung betreffe, werde dies mit jedem Rentner schwieriger. Tatsächlich habe Wolter mit einigen Studien ermittelt, dass mit zunehmendem Alter der Befragten die Priorität von Bildungsinvestitionen sinkt (zugunsten von Ausgabewünschen für Gesundheit und Soziales). Eine düstere Prognose also für Bildung im Hinblick auf den demografischen Wandel. Zur Eruierung von Reformpotentialen hat sich Wolter mit den "opnion leaders" der Bildungspolitik befasst: In diesem Gesellschaftsbereich werden diese durch Akademiker*innen und durch Lehrkräfte gestellt, die die öffentliche Debatte oft meinungs- und lautstark bestimmen, so Wolter. In einzelnen Fällen konnte Wolter zeigen, dass diese opinion leader dabei keineswegs die Mehrheitsmeinung repräsentieren. So sei beispielsweise in vielen Kantonen gegen das bewährte Schweizer Modell von Lehrerverbänden mit einer beeindruckenden medialen Dominanz mobil gemacht worden, nachdem bereits in der Primarschule zwei Fremdsprachen gelernt werden. Ausschließlich unter Lehrenden konnte Wolter eine deutliche Mehrheit für die Alternative finden, nach welcher erst in der 7. Klasse die zweite Fremdsprache eingeführt werden soll. Wolters Fingerzeig auf die Beharrungskräfte gegenüber Reformen geht in die Richtung derer, die Schule vor Ort gestalten. In seinem Beispiel fremdsprachlichen Unterrichts fühlten sich Lehrkräfte im Primarbereich von der Aufgabe überfordert, weil sie sich nicht ausreichend unterstützt und ausgebildet fühlten. 


Um die Perspektive der Lehrenden auf Bildung kreist auch das nachmittägliche Forum "Schulsystem: Wie kann Inklusion gelingen?". Prof. Dr. Birgit Lütje-Klose von der Universität Bielefeld führt in der Moderatorinrolle aus, dass spätestens mit dem Artikel 24 der UN-Konvention zum Schutze der Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) die Inklusion menschenrechtlich geboten – und erziehungswissenschaftlich sowie durch die Praxis inzwischen bestens abgesichert sei. 


Der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz (KMK) Udo Michallik begrüßt entsprechend, dass nicht länger über das ob der Inklusion diskutiert werde, sondern einzig noch über das wie. Vor uns stünde ein Paradigmenwechsel von Fürsorge auf Teilhabe, er selbst vertrete einen "erweiterten Inklusionsbegriff", der etwa auch Hochbegabte einschließe. Aus den neuen KMK-Standards für die "Schule der Vielfalt" solle jetzt an den Lehrkräfteausbildungsstätten ein disziplinübergreifender Diskurs über eine neue Lehrerbildung erwachsen. Michallik will dabei die "Standards der Förderschulen bewahren" und sich keine Illusionen darüber machen, dass Inklusion mehr meint als mit Fördergutachten bislang abgedeckt war. Bei den bestehenden Herausforderungen der Länder und Kommunen bezüglich der sächlichen und personellen Ressourcen und neuer Techniken wie multiprofessionelle Kooperation käme es nach seiner Auffassung auf das richtige Maß zwischen Dringlichkeit und Sorgfalt an.


Dr. Ilka Hoffmann (GEW) verweist auf eine Studie im Auftrag der Lebenshilfe, um das alte Prinzip der Fürsorge dem neuen Paradigma des Empowerments als wegweisend für die Inklusion in der Bildung gegenüberzustellen. Laut Hoffmann wird dieser Übergang keine leichte Aufgabe: "Inklusion ist kein Anbau an die bestehenden Strukturen, sondern ein radikaler Umbau." Dieser Weg führe on zur Teilhabe und Antidiskriminierung aller Mitglieder der Gemeinschaft. Als aktuelle Probleme der schulischen Inklusion benennt Hoffmann widersprüchliche Anforderungen an Lehrkräfte in der Praxis, Reformbedarfe in der LehrerInnenbildung und teilweise fehlende Rahmenkonzepte zur Umsetzung der Inklusion in der Bildung. Insgesamt biete die Inklusion eine Chancen zur Stärkung der Demokratie, da durch die Überwindung institutioneller Diskriminierung, den Abbau von Barrieren und durch eine resultierende Schulstrukturentwicklung eine sinnvolle Weiterentwicklung der Gesellschaft möglich werde. Ausdrücklich befürwortet Hoffmann auf diesem Weg auch das HRK&KMK-Papier "Vielfalt in der Schule".


Prof. Dr. Hans Anand Pand von der Deutschen Schulakademie und der HU Berlin bringt Ergebnisse der jüngsten IQB-Studie ein, die kaum dramatischer ausfallen könnten. Pand weist massive Lernunterschiede nach, die den Kompetenzzugewinn in Lesen oder Mathematik von inklusive beschulten L-SchülerInnen weite über denen von ebenso etikettierten SchülerInnen aus segregiernden Schulsystemen erscheinen lassen. Pand sieht dabei für die Inklusion das Hauptproblem in der Bildungspolitik selbst: Schulische Inklusion sei derzeit in eine top-down verordnete Bottom-up-Bewegung. Daher bleibe die wichtigste Frage vorerst: Wie können wir mehr Schulen in einen zielgerichteten Veränderungsprozess führen?


In der anschließenden Podiumsdiskussion plädiert Michallik für einen differenzierten Umgang mit Inklusion. Er zitiert eine Schulleiterin, die ihm sagte, das Problem bei der inklusiven Beschulung seien die eigenen Kollegen.Tatsächlich organisierten LehrerInnen der weiterführenden Schulen Widerstand gegen Neuerung. Pand hingegen kritisiert den "Wildwuchs". Seiner Erfahrung nach bleiben Haltungsproblematiken der Eltern und der Lehrenden unter der Oberflächen, überdeckt von "Lippservices". Sogar an Vorzeigeschulen für Inklusion finde er immer auch große Skeptiker. Hoffmann beteuert, dass es der GEW, anders als anderen Verbänden, nicht um den Erhalt alter Einteilungen gehe, und Inklusion vor dem Gymnasium keinen Halt machen dürfe. Dem sieht auch Michallik so: Ja, die Gymnasien sollen sich der Inklusion stellen – momentan würden sie beispielsweise Hochbegabten nicht gerecht. 
Zum Tagungsabschluss treffen Prof. Dr. Jürgen Baumert (MPI Bildungsforschung), Josef Erhard (Ministerialdirektor im Ministerium Unterricht und Kultus Bayern), Prof. Dr. Manfred Prenzel (TUM & Vorsitzender des Wissenschaftsrats), U. Gaul (Ministerium für Wissenschaft und Kunst Sachsen) und Michael Teusch (Referatsleiter Länderanalyse, Generaldirektion Bildung und Kultur der Europäischen Kommission) auf der großen Bühne zu einem Abschluss als Blick aus der Vogelperspektive zusammen. "Welche Bildungsreformen waren im Überblick aller Länder in den letzten Jahrzehnten erfolgreich?", lautet die Ausgangsfrage der Runde. Prenzl verweist auf die Umstellung von Programm- auf Systemakkreditierung und das Duale Studium. Baumert gibt zu bedenken, dass Reformen als Modernisierungsprozesse, die politisch-administrativ gestaltet sind, in der Praxis immer auch Nebeneffekte haben und deshalb Nachsteuerungen bedürfen. Also positive Beispiele nennt Baumer u.a. die Exzellenzinitiative im Hochschulbereich und für die Schule G8 – einzig wegen seiner Nebenfolge: als Ganztagsprogramm für Gymnasien.